Wir haben gerade mal die halbe Strecke des – zugegebenermaßen recht langen – Vorhafens hinter uns als ich die Genua ausrolle. Noch läuft der Motor mit, hier im Hafenbereich erscheint mir reines Segeln nicht so ratsam. Und doch, der Wind ist einfach großartig. Mit drei bis vier Windstärken aus Westen pustet er, Bedingungen für traumhaftes Segeln mit halbem Wind.
Doch als die Genua etwa zur Hälfte ausgerollt ist stockt sie. Ein Blick nach Vorne zeigt sogleich den Grund für den Stopp: Die Reffleine hat sich im Sicherungsstift des Ankers verfangen. So kann das natürlich nichts werden.
Eilig blicke ich mich um, werfe einen Blick auf die Seekarte. Doch alle Hindernisse sind ein gutes Stück entfernt, Untiefen sind kein Thema und andere Fahrzeuge sind fern. So pieke ich mich in die Sicherungsleine ein, verlasse das Cockpit und gehe zum Bug. Bea Orca hält eine Zeitlang ganz vernünftig ihren Kurs. Nur heftige Bewegungen bringen sie aus dem Gleichgewicht.
Die verfangene Leine ist schnell bereit. Zurück im Cockpit kann ich dann die restliche Genua setzen – ich hatte die Leine sicherheitshalber vor meinem Spaziergang belegt um ein Ausrauschen des Vorsegels zu verhindern.
Mit guter Fahrt geht es raus auf die Ems. Hier, vor Delfzijl, ist die Breite noch überschaubar. Doch wir sich dies schnell ändern. Dies verraten nicht nur die Seekarten, bereits das bloße Auge kann dies deutlich sehen. Nach Norden hin wird sie zügig Breiter, weitet sich vom Fluss zum Wattenmeer.
Da gerade keine Schiffe in der Nähe im Fahrwasser sind beschließe ich dieses sofort zu kreuzen. Die Ems ist stärker befahren als zunächst von mir angenommen und ich muss früher oder später die Seite wechseln. Obgleich noch nicht ganz klar ist wo es hin geht – einfach die Ems runter bis Borkum oder aber über ein Wattenhoch zu einem Ankerplatz südlich von Juist – ich muss auf die Deutsche Seite. Hier auf der niederländischen gibt es für mich keine interessanten Häfen oder Ankerplätze.
Mit drei bis vier Knoten geht es durchs Wasser. Bei den ehr drei denn vier Beaufort eine für mich mehr als zufriedenstellende Geschwindigkeit. Immer wieder ziehen kurze Regenschauer über uns hinweg, Wind enthalten diese aber keinen.
Ich halte mich sauber außerhalb des Fahrwassers, trotzdem sehe ich immer wieder das eine oder Schiff aus der Nähe. So viel Platz ist hier schlicht nicht und von den Untiefen mag ich mich, zumindest solange es mir möglich ist, fernhalten.
Während das Wasser zunehmend abläuft, die Tide ist mittlerweile gekentert, werden wir auch immer schneller. Schließlich sind es bereits sechs bis sieben Knoten mit denen Bea Orca über den Grund rast. Nachdenklich sehe ich auf die Uhr, rechne, rechne erneut und dann gleich nochmals. Das Wasser läuft nun schon eine Zeitlang ab. Wie immer wenn man auf den Flüssen mit dem ablaufenden Wasser segelt habe ich eine kurze Tide. Das bedeutet: Da wo ich hin möchte ist die Tide bereits gekentert, das Wasser schon abgelaufen als es da wo ich gestartet bin noch aufgelaufen ist. Die Tide schreitet entsprechend aus meiner Sicht beschleunigt fort, die Zeit ist noch knapper als sonst.
Besonders kritisch ist aber eigentlich etwas anderes: Das Wasser läuft ab – nicht auf. Wenn ich irgendwo aufsitze habe ich nur wenige Minuten Zeit um frei zu kommen. Die bei auflaufendem Wasser bequeme Strategie – man wird ja demnächst von selbst weiter kommen – klappt hier nicht. Im Gegenteil. Vor mir liegt ein Wattenhoch. Will ich in die Osterems – was ich doch recht gerne möchte – so muss ich zunächst dort hinüber. Und zwar über das Ganze. Trockenfallen sollte ich besser nicht, wir befinden uns hier im Nationalpark, Zone 1. Also: Kann ich es schaffen? Dann nichts wie rüber. Oder ist es vielleicht doch schon zu spät? Dann auf nach Borkum.
Nach der vierten Überprüfung meiner Berechnungen – das Ergebnis hat sich noch immer nicht verändert – lege ich den Kurs an. Es ist sechzehn Uhr als ich ins Wattfahrwasser einlaufe. Jetzt geht es kurz gegen die Tide. Hier muss ich genau aufpassen wie viel Zeit mich dies kostet, denn einen großen Zeitpuffer habe ich nicht. Es ist drei Stunden nach Hochwasser und beim aktuellen Wasserstand – ich habe die BSH-Prognosen extra vor dem Ablegen noch mal überprüft – habe ich nur bis dreieinhalb Stunden nach Hochwasser genug Wasser um hier rüber zu kommen. Doch die Bedingungen sind gut. Ich will es versuchen.
Trotzdem habe ich das Großsegel geborgen, Motorsegeln ist mir hier lieber. Einerseits um mich nicht so schnell irgendwo einzugraben, andererseits um schneller reagieren zu können. Die Genua ist in wenigen Sekunden geborgen, der Motor auf Leerlauf geschaltet. Kann ich entweder binne etwa einer halben Minute mich unter Motor von einer Untiefe ziehen oder aber ins Wasser und Bea Orca händisch befreien. Der große Vorteil von 80 Zentimeter Tiefgang und passablen Wassertemperaturen: Ein Boot lässt sich von einer Untiefe schieben. Denn wo das Boot aufsitzt, da kann man komfortabel stehen. Eine fixe Schmerzensgrenze habe ich für dieses Wattenhoch nicht, allerdings prüfe ich immer wieder die tatsächliche Wassergrenze im Abgleich mit den berechneten Tiefen aus der Seekarte. Sollte absehbar sein das ich über das flachste Stück nicht komme muss ich umdrehen.
Angestrengt wandern meine Augen zwischen dem Echolot, der Seekarte und dem Fahrwasser vor- und hinter mir. Beide Richtungen deshalb da ich so nur meinen tatsächlichen Kurs optisch erkennen kann. Sicher, auch ein Blick aufs Tablett kann helfen. Doch in den sich ständig verändernden Fahrwassern des Wattenmeers ist mir das nicht zuverlässig genug. Ich brauche immer zwei Punkte um meinen Kurs über Grund zu erkennen, den Versatz durch die Tide auszugleichen. Und es interessiert mich nicht der Kompasskurs über Grund sondern die Tatsache das ich den Fahrwassermarkierungen folge.
Mit fünf Knoten über Grund geht es über das Wattenhoch. Das Echolot piept und piept, die Wassertiefen liegen zwischen dreißig und vierzig, stellenweiße sogar nur zwanzig Zentimeter. Dann wird es wieder tiefer. Doch noch ist es nicht geschafft, eine letzte Barre liegt noch vor der tieferen Osterems.
Sie sollte meinen Informationen nach noch mal flach werden – aber obwohl die Tide noch weiter fortgeschritten ist sollte ich es schaffen. Ich muss es schaffen. Denn wenn nicht, dessen bin ich mir bewusst, dann bin ich gefangen. Umdrehen? Dafür wird bald das Wasser fehlen. Wenn es nicht bereits jetzt weg ist. Aber bisher haben meine Berechnungen perfekt gepasst, da wird es das eine Mal auch noch klappen. Da vorne, nicht weit von hier kann ich es sehen, die tiefere Osterems, das Fahrwasser in dem ich die Wassertiefen wieder in Metern und nicht in Dezimetern messen werde. Ein letztes Mal Luft anhalten. Das Echolot rast von fast einem Meter nach unten. Fängt an zu piepsen um mich vor der Untiefe zu warnen. Vierzig Zentimeter. Dreißig Zentimeter. Zwanzig Zentimeter. Gleich….
Es ist geschafft. Stolz schmunzle ich. Das hätte ich mich vor kurzem nicht getraut. Mit fünf Knoten über Grund unterwegs zu sein hier im Wattenmeer wenn ich nur zwanzig Zentimeter unter den Kielen habe. Doch ich wusste das meine Rechnung stimmt. Und zudem steht keine Welle die Bea Orca hätte in Bedrängnis bringen können.
Die Anzeige auf dem Echolot zeigt wieder Meter unter den Kielen an. Es ist geschafft.
Ein paar Minuten später wird meine Freude von einer Sekunde zur anderen unterbrochen. Laut prasselnd schlagen Regentropfen auf Bea Orcas Deck. Starker Wind von achtern pustet die schweren Regenschwaden durch den offenen Niedergang ins Boot. Doch unter Deck gehen kann ich nicht. Denn der gleiche Starke Wind greift in die Segel, lässt Bea Orca losrennen. Nur wenige Meter auf Back- und Steuerbord liegen flache Sandbänke, teils bereits trockengefallen, teils noch überflutet. Die Gesamtbreite des Fahrwassers liegt bei vielleicht hundert Metern. Wirklich Seeraum habe ich nicht. Doch was das auf uns einpustet sind eindeutig Starkwindböen. Mir bleibt nur eines: Die Flucht nach vorne, aussegeln. Ein Ritt durch die sich bei Starkwind gegen Strom zügig aufbauende Welle, hindurch zwischen den zum greifen nahe liegenden Sandbänken.
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